Zwischen Unschuld und Verführung

Ernst Molden und Walther Soyka spielen live Musik zum Stummfilm »Die kleine Veronika« von Robert Land

Restaurierung (Filmstill aus »Die kleine Veronika«) © Filmarchiv Austria 2017

Es war eine kleine Sensation: Einer der meistgesuchten, jahrzehntelang verschollenen Stummfilme, »Die kleine Veronika« des österreichisch-jüdischen Regisseurs Robert Land nach der gleichnamigen Novelle von Felix Salten, wurde 2016 aufgestöbert. Das Filmarchiv Austria hat den Film sorgfältig restauriert, und nun können wir sie wieder sehen, die authentischen Schauplätze des Wien von 1930. Die kleine Veronika vollzieht im Laufe der Handlung den Schritt vom Mädchen zur Frau: Sie verlässt ihr Bergdorf in Richtung Großstadt, wird dort gefirmt, taucht aber auch ungewollt in die Halbwelt des Prostituierten-Viertels rund um den Spittelberg ein und gibt sich den Lustbarkeiten des Praters mit Vergnügen hin.
Auch den Poeten an der Gitarre, Ernst Molden, hat der Film mit seinen kontrastreichen Szenen aus dem »reinen Land« und den unterschiedlichen Milieus der Stadt sofort in den Bann gezogen. Der »Einflussbereich der Nacht und ihrer Halodris«, den Robert Land auf wunderbare Weise festgehalten hat, ist dem »Leonard Cohen Wiens« wie der »Falter« Molden einst nannte, seit jeher sympathisch, schöpft er doch Inspiration für die eigenen Songs aus dem dämmrigen Untergrund und der urbanen Mythenwelt Wiens.

Ernst Molden © Lukas Beck

Ernst Molden: »Die verlorenen Seelen, diese Huren am Spittelberg, sehen in Veronika die Unschuld, nach der sie sich zurücksehnen. Aber das ist ja auch nur eine Projektion. Sie ist ja schuldig von dem Moment an, an dem sie sich am Bauernhof das Kleid anzieht, das ihr die Tante aus der Stadt schickt. Da steht der Plan deutlich im Raum: Sie will etwas Arges aufführen in Wien.«
Offizieller Anlass der Reise Veronikas ist die Firmung im Stephans-dom, doch diese nimmt im Film nur eine halbe Minute ein – wohingegen die Szenen im Tanzetablissement ausführlich gezeigt werden. Aus dem ländlichen Paradies kommt die kleine Veronika – »und isst im Wurstelprater vom Baum der Erkenntnis«, fasst Molden pointiert zusammen.

Ernst Molden © Lukas Beck

Der Musiker liebt die Bilder aus dem Gastgarten im Prater von 1930 und die »authentische Wildheit« der Szenen im Tanztempel. »Der Prater wird so schön gezeigt. Heute ist er ja nimma so schön«, was Molden zu einem Exkurs auf die heutige Zeit bringt, »wo wir diesen Zug der Goten über Rom haben, sprich die Trachtenpärchen, die die Hauptstadt während der Wiesn-Zeit einnehmen und sich ansaufen. Das Narrativ ist heute: Die Stadt ist verdorben und gefährlich. Vom Land hinein kommt jetzt das Paradox des unschuldigen Exzesses. Dass der natürlich mit diesen Busenquetschkleidern, den Dirndln, extrem sexistisch eingefärbt ist, spielt dann keine Rolle.«
Lands Film wird getragen von dem Spannungsfeld zwischen Unschuld und Verführung des jungen Mädchens in dem zwielichtigen Ambiente der Großstadt. Walther Soyka wirft ein: »Die Sehnsucht nach der Unschuld rührt ja her von der Schuld.« Und Molden nimmt den Faden auf: »Im Katholizismus wirst du geboren mit der Schuld. Alles ist schlechtes Gewissen und Schande. Wer nicht in so autoritär katholischen Verhältnissen oder anders schwarzpädagogischen Systemen aufgezogen worden ist, hat wahrscheinlich nicht gar so einen Hang zum Etablissement im Prater.«
Robert Lands Film wartet mit vielen Außenaufnahmen des Wiens der Zwischenkriegszeit auf. So sieht man den historischen Westbahnhof: die erste Autofahrt der Veronika im Cabrio ihrer Tante führt sie über die belebte Mariahilferstraße; man kann den Flohmarkt am Naschmarkt erkennen und später den Praterstern samt Riesenrad und Julius Meinl am Kärntnertor. Wie inspirieren diese Bilder und die Handlung die beiden Musiker Molden und Soyka?

Restaurierung (Filmstill aus »Die kleine Veronika«) © Filmarchiv Austria 2017

Ernst Molden: »Jeder Film hat Sedimente an Stimmungen, die sich übereinander legen und verschieben. Das hat nicht unbedingt mit den Handlungssträngen zu tun, die Filme haben so ein kälter – wärmer, atemlos – schläfriger, das spürt man. Diese Punkte muss man erwischen. Walther [Soyka] hat auf der Bühne seine Knöpferlharmonika und ich hab‘ zwei Gitarren in der Ecke stehen. Wir arbeiten sehr zart, homöopathisch mit Loopern. Damit schichten wir so auf, bis wir das Gefühl haben: Aha, jetzt ist Wetterumschwung. Viele Filmmusiken, die wir bisher gemacht haben, waren zu unterhaltsamen Geschichten, da muss man auf Effekte schauen und es ist gut, wenn die Instrumente mitlachen. Das ist bei diesem Salten-Stoff überhaupt nicht der Fall. Die unterschiedlichen Welten des Filmes geben uns auch Hinweise: Es gibt gleich am Anfang dieses reine Land, das natürlich auch etwas von Bedrängnis hat. Und dann als Kontrast die Stadt, die die Protagonistin überfordert, wild in jeder Hinsicht, multipel. Was toll ist: Innerhalb der Stadt gibt es noch eine dritte Ebene, die Verlorenheit der Huren am Spittelberg. Sehr gerne habe ich auch diesen ‚Überhapps-Schluss‘, das übereilte Ende: Zugfahrt, Selbstmordversuch und Rettung, Erlösung in zweieinhalb Minuten. Da wird ein großes apokalyptisches Thema entwickelt und dann war es aber auch gleich wieder aus. Das g’fallt ma, dass man das so schnell erzählen kann.«

Judith Staudinger (KHN Jän/Feb 2019)


Das Konzert in der Reihe Film + Musik live fand am Di, 15.1.2019 um 19.30 Uhr im Großen Saal statt.

15/01/19 Dienstag, 19.30 Uhr, Großer Saal
Ernst Molden und Walther Soyka vertonen
»Die kleine Veronika«

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