Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Streichquartett c-moll op. 18/4 (1799)
Allegro ma non tanto
Scherzo. Andante scherzoso, quasi Allegretto
Menuetto. Allegretto
Allegro
Streichquartette op. 18
Einführung
Als sich Ludwig van Beethoven erstmals dem Komponieren von Streichquartetten zuwandte, hatte diese musikalische Gattung eine zwar kurze, aber heftige musikgeschichtliche Entwicklung hinter sich. In der Mitte des 18. Jahrhunderts näherten sich zwei Komponisten an verschiedenen Orten der Komposition für zwei Violinen, Viola und Violoncello: Joseph Haydn in Wien und Luigi Boccherini in Italien. Dass sich Haydns Streichquartettkompositionen wirkungsgeschichtlich durchgesetzt haben, dürfte anfangs weniger an deren Kompositionsweise gelegen haben als an der spezifischen Entwicklung der bürgerlichen Musikkultur in Zentraleuropa, speziell in Wien. Denn Haydn begann, in der Tradition der Divertimenti und Cassationen stehend, mit fünfsätzigen Streichquartetten op. 1 und op. 2 (komponiert 1755 bis 1759), in denen daher spielhafte, vergnügliche Elemente überwiegen.
Aber schon in der nächsten Gruppe von Streichquartetten, op. 9, 17 und 20, deren Entstehungszeit in die Jahre 1769 bis 1772 fällt, zeichnen sich äußere und innere kompositorische Kriterien ab, die noch für den frühen Beethoven gelten sollen: Man fügt sechs Quartette zu einer Werkgruppe zusammen, wobei mindestens ein Quartett in Moll steht (meistens das vierte Quartett) und alle zusammen verschiedenartige Ausdrucksbereiche erschließen. Ein weiteres Charakteristikum ist die Viersätzigkeit, die sich nun als klassische Satzfolge etablieren sollte. Mit Haydns sechs Quartetten op. 33 von 1781 erreicht die Gattung ihren ersten Höhepunkt. Der expressiv-empfindsame, sprechende Tonfall der Quartette op. 9, 17 und 20 weicht einem auf formale Klarheit zielenden Kompositionsstil, der auch »volkstümliche« Idiome nicht verschmäht. Ihre Rationalität gewinnt die neue Sprache als ein Komponieren mit Tönen anstatt eines Komponierens mit Affekten und Empfindungen. Gegenüber den »extremen« alten Quartetten steht hier die Durchsichtigkeit und Nachvollziehbarkeit der musikalischen Prozesse im Vordergrund. Der Musikhistoriker Ludwig Finscher bezeichnet die Quartette op. 33 denn auch als »das Epochenwerk, in dem das Streichquartett seine erste klassische Verwirklichung gefunden hat«.
Als Mozart in den Jahren 1781 bis 1784 sechs Quartette (G-Dur K 387, d-moll K 421, Es-Dur K 428, B-Dur K 458, A-Dur K 464, C-Dur K 465) schreibt, orientiert er sich ausdrücklich an Haydns Quartetten op. 33. Dabei ahmt Mozart in diesen Quartetten Haydns Vorbild nicht einfach nach, sondern destilliert aus dessen Verfahren seine eigene Musiksprache, die stärker die harmonischen Strukturelemente berücksichtigt.
Mit der Komposition dieser beiden Streichquartett-Zyklen hat sich der soziale Ort der Gattung endgültig gewandelt. Die Tatsache, dass Mozart die genannten sechs Quartette Haydn widmet, bezeugt eindringlich den, wie Theodor W. Adorno sagt: »Vorrang der Komposition über das Musizieren« (Gesammelte Schriften Bd. 14), denn nun schreibt ein Kenner für einen anderen. (Darin liegt vielleicht der bedeutendste Unterschied zur Entwicklung der Symphonie.) Das bestätigt auch eine Besprechung der ersten drei Quartette op. 18 in der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« vom 26. August 1801. Die Quartette »geben einen vollgültigen Beweis für seine Kunst«, heißt es dort, »doch müssen sie öfters und sehr gut gespielt werden, da sie sehr schwer auszuführen und keineswegs populair sind«.
Für Beethoven hatte sich die soziale Situation des Komponisten gegenüber Haydn und Mozart entscheidend geändert. Beethoven war durchaus nicht mehr abhängig von staatlicher oder kirchlicher Protektion. In dem Maße, wie sich z. B. das Verlagswesen entfaltete, konnte er sich entscheiden, bei wem er was verlegen lassen wollte. Ein Brief an seinen Jugendfreund Friedrich Georg Wegeler vom Juni 1800 dokumentiert diese Situation: »Meine Compositionen tragen mir viel ein, und ich kann sagen, daß ich mehr Bestellungen habe, als fast möglich ist, daß ich befriedigen kann. Auch habe ich auf jede Sache 6, 7 Verleger, und noch mehr, wenn ich mir’s angelegen sein lassen will: man accordiert nicht mehr mit mir, ich forder und man zahlt.« Während Mozart noch um sein Publikum kämpfen musste und seinen Kompositionsstil in genialer Weise an diese Situation anzupassen wusste, kann Beethoven im Prinzip komponieren, »was er will«. Die Idee der künstlerischen Autonomie ist für Beethoven ein Faktum.
Zwar knüpft Beethoven mit seinen sechs Quartetten op. 18 an die Vorbilder Haydn, Mozart und den in Vergessenheit geratenen Emanuel Aloys Förster an, aber er imitiert sie nicht. Der neue Stil der Quartette op. 18 ist begründet in der Verschmelzung von motivisch-thematischer Arbeit und harmonischer Abwechslung. Es ist besonders auffällig, wie oft Beethoven in den Quartetten op. 18 die Tongeschlechter (Dur und Moll) innerhalb kürzester Zeit umschlagen lässt oder wie häufig er unvorbereitet die Tonarten wechselt, sei’s, um Überraschungen zu bewirken, sei’s, um den spezifischen Quartettklang auszureizen (im Streichquartett klingt Des-Dur sehr viel dunkler als das helle D-Dur). Bei Beethoven wird von der Besetzung über die motivisch-thematische Arbeit bis zur harmonischen Gestaltung alles als kompositorisches Material angesehen.
Zur Entstehung
Beethovens Streichquartette op. 18 entstanden in den Jahren 1798 bis 1800.
Sommer/Herbst 1798 – Januar 1799: op. 18 Nr. 3 D-Dur
Februar 1799 – April 1799: op. 18 Nr. 1 F-Dur, erste Fassung
April 1799 – Juni 1799: op. 18 Nr. 2 G-Dur
Juni 1799: Abschriften der 3 Quartette in der obigen Reihenfolge
Juni 1799 – August 1799: op. 18 Nr. 5 A-Dur
Sommer/Herbst 1799: op. 18 Nr. 4 c-moll
April 1800 – Sommer 1800: op. 18 Nr. 6 B-Dur; op. 18 Nr. 2 wird überarbeitet; op. 18 Nr. 1, Revision
Die Streichquartette op. 18 erscheinen 1801 in zwei Lieferungen zu je drei Werken als Stimmenmaterial bei Mollo in Wien (eine Partitur gibt es erst 1829!) und sollen, was aber keineswegs gesichert ist, im gleichen Jahr durch das Schuppanzigh-Quartett im Hause Emanuel Aloys Försters zum ersten Mal erklungen sein. Sie sind dem Fürsten Nikolaus von Lobkowitz gewidmet, dem übrigens auch die dritte, fünfte und sechste Symphonie sowie das Streichquartett op. 74 zugeeignet werden.
Streichquartett c-moll op. 18/4
Das vierte Quartett gilt manchen Musikhistorikern als »schwarzes Schaf« dieser Serie. Einige Autoren glauben, es stamme zu wesentlichen Teilen noch aus Beethovens Bonner Zeit, weil sich in den Skizzenbüchern zu den Quartetten op. 18 keine Notizen zu diesem c-moll-Quartett finden lassen. Mag denn sein, dass einige Einfälle des Werkes aus älterer Zeit stammen und manche musikalischen Gesten an Verarbeitungstechniken der »Mannheimer Schule« erinnern – die Art und Weise, in der diese Techniken in die Komposition eingegangen sind, ist unbestritten genuin Beethoven.
Der erste Satz hat ein kraftvolles Hauptthema in der ersten Violine über einem Trommelbass des Violoncellos und kompakt gesetzten Nebenstimmen. Das Seitenthema greift melodisch den Nachsatz des Hauptthemas auf, doch sind die Begleitstimmen sehr viel lockerer konzipiert. Die am Ende der Exposition stehenden Akkordschläge schließen diesen Teil ab und öffnen die Durchführung, in der Haupt- und Seitenthema gleichgewichtig verarbeitet werden. Interessant an der Reprise ist vor allem die Verselbständigung der Akkordschläge als Überleitung zwischen Haupt- und Seitensatz.
Im zweiten Satz gelingt Beethoven ganz einmalig die Symbiose von Tanzcharakteren und kontrapunktischen Techniken (Fugati). So schwankt der Ausdruck zwischen dem Populären und Akademischen hin und her. Der dritte Satz ist verhältnismäßig kunstlos gehalten. Das Höfisch-Triviale des Menuetts wird aber durch Akzentverschiebungen und den lastenden Moll-Gestus gebrochen. Der vierte Satz gehört dem Rondo-Typus an, dessen zwingende Gestalt vor allem aus der Aneinanderfügung kontrastierender Teile besteht, die in sich einmal homophon oder polyphon-kontrapunktisch, ein andermal konzertant oder klanglich ausgearbeitet sind.
Martin Hufner
Moments Musicaux #32
Auner Quartett
Daniel Auner Violine
Barbara Galante Auner Violine
Nikita Gerkusov Viola
Konstantin Zelenin Violoncello