Camille Saint-Saëns (1835–1921)
Sonate Nr. 1 d-moll op. 75 für Violine und Klavier (1885)
Allegro agitato
Adagio
Allegretto moderato
Allegro molto
»Ja, ich bin Klassizist, von frühester Kindheit an aufgewachsen im Geist Mozarts und Haydns.« Dieses Bekenntnis prägte Camille Saint-Saëns’ Schaffen während seiner gesamten Komponistenlaufbahn. Und seine Laufbahn war eine außerordentlich lange: Die ersten Stücke schrieb Saint-Saëns bereits 1839, im Alter von vier Jahren, die letzten entstanden kurz vor seinem Tod im Jahr 1921. Während dieser Zeitspanne wurde sein eher rückwärtsgewandter Stil unterschiedlich bewertet: In Saint-Saëns’ Jugendzeit galt seine Besinnung auf das klassische Formenrepertoire der Symphonik und Kammermusik geradezu als revolutionär; das französische Publikum interessierte sich damals fast ausschließlich für Opern. Die gleiche klassizistische Einstellung brachte dem Komponisten jedoch später den Ruf eines Akademikers oder gar Erzreaktionärs ein. Distanziert-gelassen beurteilte dagegen »Monsieur Croche« alias Claude Debussy seinen älteren Kollegen: »Wenn andere sich hartnäckig in den Kopf setzen, alles niederzureißen, so will er mit gleicher Zähigkeit alles bewahren. Seine Meister haben ihm Formen hinterlassen, die er gut findet und vor denen er einen zu natürlichen Respekt besitzt, als dass er etwas daran ändern wollte. Ich sehe keinen Grund, ihm deswegen Vorwürfe zu machen, ich sehe darin sogar ein Zeichen künstlerischer Hellsicht, die in unserer Zeit ziemlich selten ist, wo man viele Dinge von Rang ummodelt, ohne etwas Nennenswerteres auf die Beine zu stellen.«
Doch Saint-Saëns war nicht nur Komponist, sondern zugleich ein hervorragender ausübender Musiker. Als pianistisches Wunderkind spielte er schon im Alter von fünf Jahren Sonaten von Ludwig van Beethoven, und seine Virtuosität konnte er sich bis ins hohe Alter bewahren. Im Bereich der Kammermusik bevorzugte er daher Besetzungen mit Klavier wie etwa Klaviertrio, -quartett oder -quintett oder auch die Duosonate. Die Violinsonate Nr. 1 in d-moll op. 75 aus dem Jahr 1885 schrieb er sich und einem Kammermusikpartner, dem belgischen Geiger Martin Marsick, auf den Leib – die Parts beider Instrumente sind gleichermaßen virtuos angelegt.
Ähnlich wie die etwa zur gleichen Zeit entstandene »Orgelsymphonie« umfasst auch die Violinsonate vier Sätze, von denen jeweils die beiden ersten und die beiden letzten ohne Unterbrechung ineinander übergehen; die einzige Pause trennt also das Adagio von dem mit »Allegro moderato« überschriebenen Scherzo. Den Kopfsatz hat Saint-Saëns in der üblichen Sonatenform gestaltet. Dabei stellte er dem dramatischen, rhythmisch sehr freien ersten Thema ein sanfteres, regelmäßigeres zweites Thema gegenüber. Im folgenden Adagio dient als Hauptthema ein kunstvoller Dialog beider Instrumente. Bemerkenswert ist die rhythmische Gestaltung des Scherzos: Die einzelnen 3/8-Takte setzen sich äußerst gleichförmig aus einem Achtel und vier Sechzehnteln zusammen, doch dafür baut Saint-Saëns seine Phrasen konsequent aus fünf Takten (statt der üblichen vier) auf. Den Abschluss des Werks bildet eine äußerst brillante Moto-Perpetuo-Studie, in der noch einmal das zweite Thema des Kopfsatzes erscheint.
Jürgen Ostmann
Moments Musicaux #18
Christopher Hinterhuber Klavier
Ziyu He Violine